Interview mit Johann Angerler

„A World People's Representation for a United Humanity“ heißt das neue Buch von Johann Angerler. Andrea Hiller hat mit dem Autor darüber gesprochen.

 

 

 

 

 

 

 

Was war der Anstoß für dich das Buch „A World People's Representation for a United Humanity“ zu schreiben?

Drei Aspekte: Forschung und Erfahrungen mit den Gesellschaften in Sumatra, Beobachtung der Globalisierung und ihrer Dynamik, und langjährige Beschäftigung mit der Geschichte der Menschheit und den damit verbundenen Theorien. Aus dem Wissen, das mir dadurch zugänglich wurde, hat sich im Lauf der Zeit eine Idee herauskristallisiert, von der ich meine, dass sie in unserer Zeit gebraucht wird.

 

Was sind deine zentralen Fragestellungen bzw. Thesen?

Hier muss ich etwas weiter ausholen. Zur Analyse unseres heutigen politischen Systems verwende ich den „Paradigmen-Begriff“. Man spricht auch gern von Narrativen, die eine Gesellschaft steuern und, im Gegensatz dazu, von der „menschlichen Natur“, die angeblich menschliches Verhalten, und damit auch politisches, soziales und ökonomisches Verhalten steuern würde. Wir wissen heute, dass menschliche Natur wesentlich flexibler und vielseitiger ist, als oft behauptet wurde (wir werden nicht nur von „selbstsüchtigen Genen“ gesteuert), und Narrative können häufig wechseln – und zwar ohne, dass das „Paradigma“, welches ganz entscheidend das politische Handeln bestimmt, davon wirklich verändert wird. Z.B. Kapitalisten, die sich in den Konkurrenzkampf stürzen und Kommunisten, die Klassenkampf betreiben wollen, operieren im gleichen Paradigma. Es handelt sich dabei um Weltanschauung, Sicht auf die menschliche Gesellschaft und Beziehungen untereinander (auch Machtbeziehungen) und wie wir meinen, dass wir zusammenarbeiten können (oder nicht können). Wesentlich ist hierbei, dass es sich dabei um kulturell bestimmte Auffassungen handelt, selbst meinen wir, es mit wissenschaftlichen oder religiösen Wahrheiten zu tun zu haben. Die menschliche Kultur und alles, was dazu gehört, hat sich nicht nur wegen des „Überlebenskampfes“ (survival oft he fittest) entwickelt, sondern ganz wesentlich aufgrund von Kooperation. Ein politisches Paradigma muss sich zwangsläufig mit Regelung von Kooperation befassen, das ist seine Kernaufgabe. Alle heute bekannten nomadisierenden Jäger und Sammlergesellschaften haben eine sehr klare politische Zielsetzung: Nämlich nicht zuzulassen, dass ihre Gemeinschaften in Herrschende und Beherrschte unterteilt werden und haben darum darauf geachtet, dass Machtakkumulation vermieden wird. Wenn wir dies auf die hunderttausende von Jahren, in denen unsere Vorfahren auch so gelebt haben, zurückprojizieren, dann kennen wir das Erfolgsrezept des Homo Sapiens: Zusammenarbeit funktioniert besser unter Gleichen. Das hat sich mit Erfindung der Landwirtschaft und Sesshaftigkeit teilweise und mit der Professionalisierung des Kriegswesens völlig geändert. Dieser Vorgang prägt unser politisches Paradigma bis heute. Kriegsführung ermöglichte Unterjochung und damit die Teilung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte. Daraus ergaben sich neue Kooperationsmöglichkeiten und Höhenflug der Zivilisation, aber auch ein miserables Leben für Viele. Dieser Zustand wird bis heute aufrechterhalten; Spaltung und der Kampf um Machtpositionen bestimmen das Wesen unseres heutigen politischen Paradigmas und das macht eine Weiterentwicklung unserer Kooperationsmöglichkeiten unmöglich. Darum sehe ich auch keine Perspektive, dass im Rahmen unseres heutigen politischen Paradigmas die anstehenden globalen Probleme, von denen einige unsere Existenz bedrohen (Atom- und andere Kriege, Klimakatastrophen, wirtschaftlicher Zusammenbruch usw.), gelöst werden könnten. Deshalb ist meine zentrale These, dass wir uns der Frage eines grundsätzlichen Wechsels des politischen Paradigmas, welcher unbedingt global gedacht werden muss, stellen sollten. Es ist nicht unmöglich, dass wir uns im Rahmen eines neuen Paradigmas auf Basis von Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen begegnen, die Macht Menschen zu beherrschen, grundsätzlich beschränken und institutionell festlegen, dass die Regeln für globales Zusammenleben von der Gesamtheit der Menschen ausgehen sollten. Die Vision der Weltvolksvertretung zeigt einen denkbaren Weg dorthin.

 

Was ist der wesentliche Unterschied der jetzigen Institutionen zu denen, die Du in deiner Vision als notwendig erachtest?

Die heutigen internationalen Institutionen sind als Kompromisse zwischen den Mächten unseres heutigen Systems entstanden und, so wertvoll sie auch sein mögen, sie reflektieren die Situation der grundsätzlichen Gespaltenheit und haben nicht die Legitimität globale Probleme lösen zu können. Eine neue Institution, wie die Weltvolksvertretung, müsste nicht als Kompromiss entstehen, sondern auf Basis der Einsicht, dass dies für Alle der beste Weg vorwärts ist, weil sich für Alle bessere Möglichkeiten ergeben, wenn diese neue Institution besteht. Das heißt, die Weltvolksvertretung hat die Legitimität und die Mittel, Regeln für Alle aufzustellen und muss dabei nicht auf Sonderwünsche von Mächtigen eingehen und schlechte Kompromisse zulassen. Es könnte für die bestmöglichen Regeln entschieden werden. Wohl können die durch neue Regeln Benachteiligten entschädigt werden. Deutliche Regeln für das Zusammenleben auf globaler Eben würde vielfältige Vorteile ermöglichen, z.B. auch sich in Richtung stabilen Friedens zu bewegen: Die Schaffung einer deutlichen globalen Rechtssituation zu interstaatlichen Beziehungen, die Möglichkeit internationale Probleme zu lösen (anerkannte Schiedsgerichtsverfahren), Verzicht auf einseitige Hegemoniebestrebungen (dies ist in der Zustimmung zu einer Weltvolksvertretung bereits inbegriffen), und vor allem der Aufbau von Vertrauen durch die neuen Institutionen, würde es den Mächten ermöglichen, ihre ständige (und sehr teure) Kampfbereitschaft kontrolliert zurückzufahren, ohne (strategische) Nachteile befürchten zu müssen.

 

Wie kann Machtmissbrauch in dieser Vision verhindert werden? Warum ist eine Gesellschaft, die eine Weltvolksvertretung hat, weniger korrupt?

Eine Gesellschaft, die sich eine Weltvolksvertretung einrichtet, ist auf dem Weg, die Grundvoraussetzung für „das Politische“ zu verändern. In unserer heutigen Ordnung ist der Fokus auf Machterwerb primär: Es geht darum, Macht zu erwerben, sei es durch einen Krieg, eine Revolution, eine Wahl zu gewinnen, als Individuum eine Machtposition im Staatsapparat (oder einer sonstigen wichtigen Institution) zu erlangen oder sehr viel Besitz zu erwerben. Erst in zweiter Linie geht es darum, was mit der erlangten Macht zu tun ist. Leider ist das in vielen Fällen Missbrauch und Korruption. In einer Gesellschaft mit einer Weltvolksvertretung geht es zumindest auf globaler Ebene nicht mehr um den Kampf um die Macht. Die Volksvertreter erlangen ihre Positionen durch das Vertrauen, das ihnen im Wahlprozess geschenkt wird. Durch die spezifische Weise, in der die Weltvolksvertretung organisatorisch aufgebaut sein wird, wird Korruption innerhalb dieser Einrichtung unmöglich sein. Gleichzeitig erhalten auf nationaler Ebene die so gewählten Volksvertreter die Befugnis, gegenüber allen Machtverhältnissen im Land eine Kontrollfunktion auszuüben, auf allgemeine Einhaltung des Rechtes zu bestehen. Je besser die Menschen in den politischen Prozess einbezogen werden, desto mehr werden die Möglichkeiten, Korruption auszuüben schrumpfen und ein politisches oder ein anderes wichtiges Amt wird zu dem werden, was es eigentlich sein soll: Dienst an der Gesellschaft im wahren Sinn des Wortes und Knotenpunkt für erweiterte Kooperation.

 

Inwiefern hat dein Modell mit der Gesellschaftsstruktur in deinem Forschungsfeld in Sumatra zu tun?

Viel. Ohne meine langjährigen Forschungen in Sumatra und lernen von den dort lebenden Gesellschaften mit einer politischen Tradition ohne Staat, hätte ich mir schwerlich plastisch vorstellen können, wie ein ganz anderes politisches Paradigma wirklich aussehen kann. Wenngleich seit der Kolonialzeit auch dort der Staat die Macht übernommen hat, haben sich noch so manche Traditionen erhalten und die Menschen können auf eine faszinierende Geschichte zurückblicken, in der es nicht um Eroberung und Machtkonzentration ging, sondern um gut als Menschen zusammenzuleben (was nicht immer gelingen mag) und nachhaltig mit der Natur auszukommen, um Austausch, um Recht und Gesetz, kollektive Entscheidungsfindung und um Kompromisse zu finden zwischen den Notwendigkeiten der Zusammenarbeit in großem Stil (wozu Hierarchien zumindest zeitweise notwendig sind) und dem Wunsch, keine Spaltung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte zuzulassen. Von ihren Prinzipien politischer Organisation können wir heute noch viel lernen. Auch wenn ich nicht glaube, dass wir sumatranische Modelle eins zu eins übernehmen können, habe ich mich doch davon inspirieren lassen. Z.B. Beschäftigung mit dem Kernstück der traditionellen politischen Organisation, in dem jedes Mitglied der Gesellschaft seinen oder ihren Repräsentanten kennt, der sie oder ihn auf einer höheren politischen Ebene vertreten wird, ein nicht auf Krieg, sondern auf Austausch beruhendes uraltes Erfolgsmodell, hat mich dazu ermutigt, an die Erfolgschancen eines globalen Modells von Repräsentation zu glauben.

 

Bei der Diskussion bei der Buchpräsentation im Aktionsradius Augarten wurde die folgende Frage aufgeworfen: Warum sind jetzige globale Verträge und Institutionen nicht ausreichend, um den "Planeten" zu retten?

Das hat damit zu tun, dass alles von unserem heutigen politischen Paradigma ausgeht, und dieses macht die globale Einigkeit, die zur Rettung des „Planeten“ notwendig wäre, unmöglich. Unser heutiges politisches Paradigma ist aus der Praxis der Kriegsführung, Unterwerfung, Domination und Ausbeutung heraus entstanden, und es setzt sowohl Feinde wie auch Herrschende und Beherrschte voraus. Selbst wenn es gelingt, gute Verträge abzuschließen, bedeutet das noch nicht, dass es möglich ist, diese auch einzuhalten, wenn einem oder mehreren der Beteiligten dadurch ein Nachteil entstehen würde und sie befürchten müssten, Konkurrenten gegenüber ins Hintertreffen zu geraten und relativen Machtverlust zu erleiden.

 

Worin siehst Du die größten Herausforderungen unserer Zeit?

Die Liste ist lang. Die vielleicht unmittelbarste Gefahr sehe ich in der Tendenz, bestehende Kooperationsbeziehungen zusammenbrechen zu lassen. Das kann gravierende Nachteile für viele Menschen bringen und zu weiteren Kriegen führen. Und die Zerstörung der Ökosysteme unseres Planeten schreitet dadurch noch schneller voran. Man denke an die zahlreichen neuen Projekte zur Gewinnung von fossilen Brennstoffen gerade in ökologisch verletzlichen Gebieten. Dann kommt noch die Bedrohung der parlamentarischen Demokratie, die, so fehlerhaft sie auch sein mag, doch eine wichtige Errungenschaft ist, auf der sich aufbauen lässt. Auch sie ist in unserem politischen Paradigma situiert und darum sind ihre Möglichkeiten, Lösungen für die zahlreichen Probleme zu erbringen, begrenzt. Die Kritik, die ihr entgegengebracht wird, ist oft durchaus berechtigt. Allerdings, rückwärts gerichtete Lösungsansätze, die meist in Richtung von Populismus, Faschismus und Sündenbockdenken zeigen, nicht selten gesteuert durch bewusste Manipulation, stellen eine ernsthafte Gefahr dar. Eine zunehmend autoritäre Welt, verbunden mit den heutigen technologischen Möglichkeiten und Künstlicher Intelligenz zwecks Überwachung, Manipulation und Unterdrückung, würde ihre guten Zukunftsaussichten dramatisch schrumpfen sehen.

 

Wo liegt deine ganz persönliche Hoffnung für einen Wandel?

Es fehlt nicht an Schriften, Filmen und Aktionen, die auf die Dringlichkeit mancher heute bestehender globaler Probleme hinweisen. Es fehlt auch nicht an technischen Lösungsvorschlägen. Was fehlt, sind Perspektiven zur Zusammenarbeit. Meine Hoffnung ist, dass wir bald anfangen, darüber zu reden, Vorschläge ansehen und in der Folge versuchen uns klar darüber zu werden, was wir eigentlich wollen. Für mich ist deutlich, dass wir globale Probleme nur global lösen können und dazu brauchen wir Einigkeit bei den entscheidenden Angelegenheiten, bzw. einen Weg, über den wir diese erreichen können. Ich hoffe auf eine „einige“ Welt, nicht auf eine „einheitliche“ Welt, nicht auf einen Weltstaat und schon gar nicht auf undurchsichtige globale Abmachungen von Eliten. Ich will, dass die Menschen über der Macht der Eliten stehen und die globalen Regeln bestimmen können. Mit meinem Gedankenexperiment möchte ich zeigen, dass es denkbar ist, dass die Weltbevölkerung regelmäßig eine Gruppe von Repräsentanten wählt, die wirklich die Menschen von überall auf der Welt und von beiden Geschlechtern, repräsentiert. Nicht auf Basis von Wahlkampf und Manipulation, sondern auf Basis von Vertrauen. Diesen Menschen würde ich die Verantwortung für das Ganze anvertrauen, die bisher niemand trägt. Damit möchte ich den Anstoß zu einer Diskussion geben, aus der heraus sich ein Ziel ergeben soll, auf das wir hinarbeiten können. Vielleicht gelingt es, die Intellektuellen aus ihrer Lethargie zu wecken, und, was besonders wichtig ist, kann die Bevölkerung verstehen, welche Vorteile sich für das Leben Aller ergeben würden. Schließlich eine weitere Hoffnung: Vielleicht kommen eines Tages auch die Mächtigen zu der Einsicht, dass wir Alle in einer Sackgasse festsitzen, in der es kein Weiterkommen mehr gibt und fangen an nach einer friedlichen Alternative zu suchen. Dann sollte ein Konzept für eine solche bereits mit klaren Konturen anwesend sein. Damit nicht wieder, wie in der Zeit nach 1989, die Chancen vertan werden. (Andrea Hiller, © Foto)